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Wieviel Absicht verträgt der Zufall?

Nicht nur Moses, auch Darwin war ein Religionsgründer. Unangenehm wird das erst, wenn man »Gott« durch »Objektivität« ersetzt und dabei ganz sein Schicksal als ewiges Subjekt übersieht.

Wir sehen, was wir glauben, nicht umgekehrt.« So lautete der Schluss des Anthropologen Jeremy Narby, nachdem er sich für seine Studien mit den Publikationen der Molekularbiologie auseinander gesetzt hatte. Grund hierfür ist seiner Meinung nach das Axiom (eine unbewiesene, aber grundlegende Behaup¬tung) der Zufälligkeit, das – mal explizit formuliert, mal indirekt vorausgesetzt – sämtliche Theorien der zeitgenössischen Naturwissenschaften zu durchziehen scheint. Er erläutert: »Das Objektivitätspostulat hindert seine Anhänger daran, irgendeine Art von Intentionalität (d.h. Absicht) in der Natur zu erkennen, oder anders gesagt: Wer es trotzdem tut, darf sich nicht mehr Wissenschaftler nennen.«

Narby scheint mir hier auf eine Kernfrage hinzuweisen, welche für die Diskussion zwischen Wissenschaft und Religion von allergrößter Bedeutung ist. In den Medien wurde viel von der »Kreationistischen Bewegung« in den USA berichtet, die die Auffassung vertreten, die wörtliche Interpretation der Heiligen Schriften der abrahamitischen Religionen (insbesondere das 1. Buch Mose) beschreibe die tatsächliche Entstehung des Lebens wie des Universums. Man muss kein Atheist sein, um zu erkennen, dass diese Diskussion mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen des 21. Jahrhunderts nicht zu vereinbaren ist. Interessant wird es erst, wenn man sich von den Polen »Bibel« und »Darwin« löst und sich stattdessen der universellen Frage »Zufall« oder »Absicht« widmet. Denn: Nicht Gott, sondern der Mensch ist – wie üblich – das Erkenntnisproblem.

Fassen wir den aktuellen Stand der Forschung (basierend auf Darwins in der Mitte des 19. Jahrhunders entwickelter Evolutionstheorie) noch einmal kurz zusammen: Evolution findet immer statt, ist nicht umkehrbar, wirkt auf allen Ebenen von Organismen und ist nicht auf ein Endziel ausgerichtet. Trotz zahlreicher Detailfragen sind sich alle Biologen in diesen zentralen Punkten einig – berühmt geworden ist der Ausspruch des russisch-amerikanischen Genetikers Theodosius Dobzhansky: »Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn außer im Licht der Evolution.« Die Vererbungslehre geht ferner davon aus, dass immer jener Artgenosse überlebt, das am Besten an seine Umwelt angepasst ist – Stichwort: Survival of the fittest. Diese von Selektion und Mutation geprägte Theorie erklärt (wie viele Naturwissenschaften) vor allem den technisch-materiellen Ablauf der Evolution – was sie darüber hinaus über ihren Sinn aussagt, kann getrost als Spekulation betrachtet werden.

Spekulation insofern, als es – im Gegensatz zu der Frage, wie ein Gen gebildet und vererbt wird – letztlich eine Glaubensfrage ist, wie man diesen Gesamtvorgang zu beurteilen hat. 2010 befand der bekannte Physiker Steven Hawkins in seinem Buch »Der große Entwurf«, dass die Entstehung des Universums auch ohne einen bewussten Schöpfungsimpuls allein durch das Wirken der physikalischen Gesetze möglich gewesen wäre. Ist »Gott«, ist »Absicht« also »unnötig« geworden? Haben wir dadurch, dass wir der Maschine langsam auf die Spur kommen, tatsächlich die Fähigkeit erworben, über ihren Ursprung zu befinden?

Ich meine: Ja! Und das nicht etwa, weil die Antwort bereits feststünde, weil die Entscheidung zwischen Gott und dem Nichts, dem Zufall und der Absicht in irgendeiner Weise bereits entschieden wäre. Eine philosophische Diskussion auf der Höhe der Zeit erfordert von allen Beteiligten neben dem Einsatz ihres kritischen Verstands vor allem zweierlei: eine übergroße Portion Neugier und echte Unvoreingenommenheit. »Das Problem besteht nicht darin, Vorurteile zu haben, sondern darin, dass sie nicht offengelegt werden,« ergänzt Narby denn auch abschließend seine Ausführungen.

Wer aus weltanschaulichen Gründen beweisbare wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnt, irrt meiner Meinung nach ebenso wie jener Wissenschaftler, der sich für »objektiv« hält, obwohl seine Interpretation der vorliegenden Erkenntnisse längst den Rang einer Weltanschauung erlangt haben.* Es wird Zeit für einen offenen und wertfreien Dialog, wollen wir nicht die einmalige historische Chance verpassen, unsere geistige und politische Freiheit für einen echten Erkenntnisschub zu nutzen.

Denn soviel steht fest: Wissen ist niemals ein Selbstzweck. Es verändert uns, egal woran wir glauben, in einer durch und durch evolutionären Art und Weise.

* Zu diesem Thema durfte ich anlässlich seiner Buchveröffentlichung „Der Wissenschaftswahn“ ein umfangreiches Interview mit dem ebenso umstrittenen wie verehrten Materialismus-Gegner und Biologen Dr. Rupert Sheldrake führen.

Die Welt ist keine Maschine

Unter vier Augen mit dem Biologen DR. RUPERT SHELDRAKE (Großbritannien)*

Sie haben mehr als dreizehn Jahre im akademischen Betrieb gearbeitet. Haben Sie sich in dieser Zeit Ihres Lebens unzufrieden gefühlt?
Ja. Ich hatte schon früh den Eindruck, dass die Naturwissenschaften viel zu beschränkt sind, zu dogmatisch und zu reduktionistisch. Das hat mich schon als Student gestört. Doch damals dachte ich noch, dass es keine Alternative dazu gäbe. Ein erster Hoffnungsschimmer überkam mich beim Lesen von Goethes Schriften über Pflanzen und bei seiner »Farbenlehre«. Diese eröffneten mir die Möglichkeit einer ganzheitlicheren Wissenschaft. Zwischen 1963 und 1964 studierte ich dann Wissenschaftsphilosophie in Harvard. Kurz zuvor war Thomas Kuhns Buch »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« herausgekommen. Ich fand die Idee des Paradigmenwechsels, welche die Hauptthese seines Buches ist, sehr aufregend. Ich fühlte: Wissenschaft muss nicht für immer so bleiben, wie sie jetzt ist. Sie kann verändert werden. Seither interessiere ich mich für die Möglichkeit einer besseren und breiteren Art von Wissenschaft. Doch ich wollte immer, dass sie wissenschaftlich bleibt und habe deshalb auch Zeit meines Lebens innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen gearbeitet, Experimente durchgeführt, Artikel in Fachzeitschriften veröffentlicht und all das.

Haben Sie bewusst in Kauf genommen, dass Sie mit Ihrem Buch »Das schöpferische Universum« Ihre Karriere als ernstzunehmender Forscher beenden könnten?
Sagen wir es so: Ich habe die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es mir nach dieser Veröffentlichung schwer fallen könnte, einen Job an der Universität zu finden. Ich habe aber nicht geglaubt, dass es mich am Forschen hindern würde, und das hat es auch nicht getan. Ich habe seither viele Forschungsarbeiten durchgeführt. Aber ich war mir schon bewusst, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft konformistisch, intolerant und engstirnig ist. Im 19. Jahrhundert war sie noch viel breiter und toleranter aufgestellt, weil viele Wissenschaftler nicht in Institutionen arbeiteten. Charles Darwin war wie viele andere so ein freischaffender Wissenschaftler. Darwin war damals so etwas wie mein Held. Ich dachte: Wenn Darwin das tun konnte, sollte es heute auch noch möglich sein, unabhängig zu forschen. Ich hatte ja keine Ahnung, was mein Buch auslösen würde. Ich erwartete eine Debatte innerhalb der Wissenschaft und hoffte auf eine seriöse Diskussion unter Entwicklungsbiologen. Das war zumindest mein Ziel. Was dann wirklich geschah, war weitaus dramatischer. Man warf mir vor, die Natur zu verraten. Man nannte mich einen Häretiker. Diese weltweite Empörung meiner Kollegen und anderer Autoren drängte mich in eine Position, die ich so nicht für mich beabsichtigt hatte.

Sie haben sieben Bücher und etliche Artikel geschrieben, u.a. »Der siebte Sinn des Menschen« und »Denken am Rande des Undenkbaren«. Was ist Ihre Kernbotschaft?
Die Erkenntnis, dass das Universum lebendig ist, dass wir in einer organischen, sich entwickelnden Welt leben und dass es eine Art Gedächtnis in der Natur gibt. Dass lebende Organismen lebende Organismen sind und keine Maschinen. Dass das ganze Universum ein lebender Organismus ist und keine Maschine. Und dass wir alle lebende Bestandteile einer lebendigen Welt sind und keine »schwerfälligen Roboter« – um Richard Dawkins‘ Ausdruck zu verwenden – in einem mechanischen Universum, das kein Ziel hat, kein Bewusstsein und keine Richtung und das einfach per Zufall entstanden ist. Das ist die offizielle materialistische Weltsicht. Ich halte das für einen fundamentalen Irrtum.

Was stört Sie als Wissenschaftler eigentlich am derzeitigen naturwissenschaftlichen Weltbild?
Die offizielle akademische Theorie des Lebens besagt, dass lebende Organismen von ihren Genen programmiert sind, und dass diese Gene schonungslos miteinander im Wettbewerb stehen. In Wirklichkeit haben sie aufgehört, reine Moleküle zu sein. Sie sind zu kleinen Zeichentrick-Figuren verkommen. Das Problem mit der modernen mechanistischen Biologie ist, dass sie überhaupt nicht mechanistisch ist. Sie ist kryptovitalistisch. Sie personifiziert die Gene und macht aus ihnen eigene Persönlichkeiten mit ehrgeizigen Bestrebungen nach Unsterblichkeit und Wettbewerb, welche Moleküle unmöglich haben können. Sie ist naiv. Sie fußt auf vereinfachenden Metaphern. Das ist auch der Grund, warum sie für Laien so überzeugend ist. Ihre Ausdrucksweise ist überzeugend, denn sie entwirft eine grob vereinfachende, leicht verständliche Sichtweise mit einer vermenschlichenden Begrifflichkeit.

Was ist denn der Hauptunterschied zwischen diesem »heimlichen Vitalismus« und Ihrem holistischen Modell, dem ja auch von vielen Seiten Vitalismus vorgeworfen wird?
Der Unterschied zwischen dieser und meiner Sichtweise ist, dass ich mich für eine ganzheitliche Betrachtensweise der Welt einsetze, nach der die Welt auf verschiedenen Ebenen organisiert ist. Jede Musterorganisation enthält Ganzheiten, die wiederum selbst Ganzheiten sind, die aus noch kleineren Partikeln bestehen. Zellen sind demnach Organismen in Gewebe oder Organe in Gesellschaften oder Ökosystemen. Auf jeder Ebene ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Das haben schon viele Leute vor mir gesagt. Ich denke, der Hauptunterschied zwischen mir und anderen organismischen Denkern ist, dass es nach meinem Verständnis noch dazu eine Art »Gedächtnis« gibt, das durch morphische Resonanz in jede Zelle eingebaut ist und all die Gewohnheiten und Erinnerungen enthält, die wir aus der Vergangenheit geerbt haben. Ich denke, dass wir zum Verständnis der Natur ein solches Gedächtnis annehmen sollten, denn sie ist von Grund auf evolutionär; was jetzt geschieht, folgt aus dem, was zuvor geschehen ist. Geschichte ist in die Halle der Natur integriert.

Hat diese neue Sichtweise, wenn sie sich durchsetzen sollte, Konsequenzen nur für die Wissenschaft oder auch für die Gesamtgesellschaft?
Wenn man die mechanistische Theorie ernst nimmt oder sonstwie einen kompromisslosen Materialismus vertritt, dann ist das schon sehr deprimierend. Es bedeutet, dass jeder von uns in der Zurückgezogenheit seines Schädels isoliert ist, dass wir alle soziale Atome sind, dass eine Gesellschaft nichts anderes ist als eine Ansammlung atomistischer Individuen und dass das Universum an sich kein Ziel besitzt. Es gibt keinen Gott, keinen Geist, keinen Sinn. Das ist eine durch und durch bedrückende Theorie. Es ist doch ziemlich auffällig, dass eine der häufigsten Beschwerden der westlichen Welt Depressionen sind und dass Millionen von Menschen Anti-Depressiva nehmen.

Materialismus ist ja nur ein Trend dieser Zeit, der andere ist religiöser Fundamentalismus.
Ich denke, dass Fundamentalismus, egal ob christlicher oder islamischer, eine unmittelbare Reaktion auf die materialistische Weltsicht ist. In diesem Sinne halte ich beide Bewegungen für gesund. Es ist die einzige Massenbewegung gegen den Materialismus. Aber ich denke, dass sie irregeleitet ist, denn sie lehnt die wissenschaftliche Vorgehensweise ab, nur weil diese derzeit vom Materialismus begrenzt wird. Ich denke, dass die Fundamentalisten Recht damit haben, dass der Materialismus zu begrenzt ist. Doch das hat sie leider gegen die Wissenschaft als solches aufgebracht, und diesen Schritt kann ich nicht nachvollziehen. Ich möchte, dass sich die Wissenschaft ändert. Ich möchte sie nicht abschaffen, ich möchte sie weiterentwickeln. Dabei stoße ich übrigens auf eine andere Art von Fundamentalismus, der mir manches Mal noch begrenzter erscheint: wissenschaftlichen Fundamentalismus.

Verletzt Sie die Ablehnung durch Ihre früheren Kollegen?
Nun, enges dogmatisches Denken geht mir immer auf die Nerven, egal, in welcher Form es mir begegnet, ob in der Politik, in der Wirtschaft oder in der akademischen Welt. Doch ich weiß auch aus meiner Erfahrung mit vielen Wissenschaftlern auf der ganzren Welt, dass viele – obwohl sie in der Öffentlichkeit das mechanistische Weltbild verteidigen – privat viel interessantere und geistreichere Ansichten vertreten. Sie haben einfach Angst davor, mit ihren Kollegen darüber zu sprechen. Ich denke, was die Wissenschaft braucht, um sich zu ändern, ist vergleichbar mit
der Schwulenbewegung: Wissenschaftlier, die sich vor ihren Kollegen outen und offen über ihre wahren Interessen sprechen. Sie werden herausfinden, dass viele ihrer Kollegen zu alternativen Heilern gehen, paranormale Erfahrungen gemacht haben oder meditieren und beten. Viele Wissenschaftler sind in Wahrheit religiös. Wieder andere würden sich als spirituell, aber nicht gläubig bezeichnen. Manchen haben eine starke Verbindung zur Natur. Meiner Meinung nach würden diese sich outenden Wissenschaftler herausfinden, dass die meisten ihrer Kollegen in Wahrheit gar keine strikten Mechanisten und dogmatischen Skeptiker sind.

In den Verkaufszahlen halten sich Ihre Bücher und die Publikationen Ihrer Gegner ungefähr die Waage. Wie erklären Sie sich die anhaltende Popularität der Skeptiker wie Richard Dawkins (»Der Gotteswahn«), wenn der Materialismus doch so deprimierend ist?
Ich denke, dass die Leute, die seine Bücher lesen, bereits zum Wissenschaftsglauben bzw. Materialismus konvertiert sind, was bei einer großen Anzahl gebildeter Leute der Fall ist. Die Standardposition der gebildeten Intellektuellen Europas und Amerikas ist nun mal der Atheismus bzw. der Agnostizismus. Das liegt daran, dass unser bestehendes Universitätssystem ihren Studenten seit Generationen diesen aufklärerischen Rationalismus einimpft. Um ausgebildet zu werden, muss man zumindest vorgeben, daran zu glauben, um nicht von Kollegen oder Dozenten für ungebildet oder dumm gehalten zu werden. Dem allen liegt die Annahme zugrunde, nur primitive und kindische Menschen glaubten an Gott oder eine Religion, gebildete Meschen hätten diese längst hinter sich gelassen.

Wer sind dann Ihre Leser?
Leute, die sich für meine Bücher interessieren, sind Menschen, die Zweifel an der materialistischen Weltsicht haben. Und dafür gibt es gute Gründe. Nicht zuletzt, weil sie sich als unfähig erwiesen hat, die Grundlagen für eine harmonische Beziehung zu unserer Umwelt zu legen, wie uns die anhaltende ökologische Krise ja immer wieder vor Augen führt. Das ist die Mentalität, die hinter der Ideologie des Fortschritts steht. Darüber hinaus lesen mich Leute, die bezweifeln, dass der einzigen Sinn der Menschheit in ihrem materiellen Fortschritt liegt und die sich wie ich für Alternativen interessieren. Andere Leser widerum hatten selbst paranormale Erfahrungen und sind neugierig, mehr darüber zu erfahren, und abgestoßen von dem engen Dogmatismus, der ihre Erfahrungen zu Hirngespinsten erklärt. Andere haben spirituelle oder religiöse Interessen und mögen die Vorstellung nicht, dass Wissenschaft notwendigerweise atheistisch sein muss und man nur die Wahl hat zwischen ungläubiger Wissenschaft und leichtgläubiger Religion; Leute, die sowohl Wissenschaft als auch Spiritualität schätzen und nach einer neuen Beziehung zwischen den beiden suchen.

Ist dieser Widerspruch zwischen Wissenschaft und Glaube nicht auch Ihr ganz persönlicher Kampf, den Sie als Mensch in Ihrem Inneren ausfechten?
Ich glaube an Bildung und ich glaube an Wissenschaft. Und ich glaube, dass Wissenschaft und Bildung nicht zwangsläufig materialistisch sein müssen. Ich denke, dass wir Wissenschaft und Bildung nicht ablehnen sollten. Doch wir sollten sie reformieren. Ich glaube, wir brauchen eine Aufklärung der Aufklärung. Wir müssen den Dogmatismus in Frage stellen, der aufgeklärtes Denken geworden ist, um uns von diesem neuen Dogmatismus zu befreien. Wir müssen zum Beispiel alte Kulturen nicht für dumme, leicht verführbare Menschen halten, die von ihren Schamanen oder Priestern nur belogen wurden, um sie durch törichten Aberglauben zu manipulieren. All das trägt eine Reihe von Hypothesen in die wissenschaftliche Forschung herein, die nicht nur nicht notwendig ist, sondern im Gegenteil kontraproduktiv für das Studium der menschlichen Natur und Kultur. In der Vergangenheit war Forschung auch nicht immer so reduziert. Sehen wir uns die mittelalterliche Wissenschaft an mit Leuten wie Thomas von Aquin: außergewöhnlich integrativ, eine intelligente Verbindung von Glauben und Verstand, die wirklich inspirierend ist. In der Summa Theologica beginnt er nicht mit dem Gedanken: Das und das ist das Dogma. Er beginnt mit einer Serie von Fragen, und alles, was er behandelt, dreht sich um Fragen. Er schreibt immer beide Sichtweisen, dafür und dagegen. In den mittelalterlichen Klöstern war es üblich, Debatten mit einem »advocatus diaboli« zu führen und alle Standpunkte zu vertreten. In tibetischen Klöstern findet man diese Tradition heute noch. Diese Angewohnheit, Untersuchungen mithilfe von Debatten und Diskussionen durchzuführen, war Bestandteil vieler religiöser Traditionen – allen voran der jüdischen. Ironischerweise ist es das, was der modernen Wissenschaft so schmerzlich fehlt. In der modernen Wissenschaft gibt es keine solche Debattenkultur, statt dessen gibt es eine autoritäre Verwaltungsstruktur der Entlohnung, der Zeitschriftenverleger, der Universitätsprofessoren; gleichzeitig gibt es eine Orthodoxie, und Leute, die da nicht reinpassen, werden nicht entlohnt. Die werden nicht befördert, die bekommen keine Jobs oder sie bekommen den Stempel des Häretikers aufgedrückt. Das Wort Häresie wird in der modernen Wissenschaft häufiger gebraucht als in der modernen Religion.

Von 2005 bis 2010 haben Sie ein Projekt am ehrwürdigen Trinity College in Cambridge geleitet. Was war der Gegenstand Ihrer Forschung?
Im Rahmen des Perrott-Warrick-Funds, der zu Ehren von Frederick Myers gestiftet wurde, habe ich mich hauptsächlich mit Telepathie befasst, und zwar in Verbindung mit neuen Kommunikationstechnologien: Telefonische Telepathie, SMS-Telepathie, E-Mail-Telepathie. Diese Formen der Telepathie haben sich parallel zu den betreffenden Technologien entwickelt. Es ist eine weit verbreitete Erfahrung, dass Leute an jemanden denken, kurz bevor dieser anruft. Meine Untersuchungen zeigen, dass 80% der Leute in Deutschland, England und Amerika solche Erfahrungen gemacht haben. Die akademische Welt hat das immer zurückgewiesen mit dem Argument, dass es sich dabei um reinen Zufall handle und dass man dauernd ohne Ergebnis an irgendwelche Leute denkt, so dass es keine Telepathie ist, wenn ein Betreffender dann auch mal »zufällig« anruft. Andere halten diese Erfahrungen für das Ergebnis eines unbewussten Wissens. Aber sehen Sie, diese Hypothesen besitzen überhaupt keine Beweiskraft. Das ist pure Spekulation. Keiner dieser Skeptiker hat je eine ernsthafte Untersuchung dieses Sachverhalts unternommen. Ich habe Tests entworfen, um der Sache nachzugehen. Das typische Experiment beinhaltet vier potentielle Anrufer. Einer von ihnen ruft nach dem Zufallsprinzip an, und der Angerufene muss vor dem Abnehmen des Hörers oder einem Blick auf das Display des Handys erraten, wer es ist. Wäre es eine Sache des Zufalls, müsste er in jedem vierten Fall richtig liegen. In Wirklichkeit aber stimmten 45% der Fälle. Und diese Tests habe ich gefilmt und in Fachzeitschriften publiziert. Sie wurden auch bereits von unabhängigen Kollegen überprüft, u.a. am Institut für Grenzgebiete der Psychologie in Freiburg. Ich denke, dass diese Ergebnisse eine recht überzeugende Beweiskraft besitzen und dafür sprechen, dass wir es mit echten Phänomenen zu tun haben. Die Argumente der Skeptiker haben sich hingegen als reine Möchtegernspekulation erwiesen.

Wir haben bereits über die Rückkehr der Fundamentalisten auf beiden Seiten gesprochen. Was glauben Sie: Werden sich die »Freigeister« am Ende gegen all diesen Widerstand durchsetzen können?
Am Ende sind sie dazu gezwungen zu gewinnen, denn die materialistische Weltsicht ist selbstzerstörerisch. Das gegenwärtige System kann ohnehin nicht mehr lange so weitergehen – wegen des Klimawandels, dieses lächerlichen Casinokapitalismus, dem Wegschmelzen des ganzen Finanzsystems und auch wegen der Verlagerung der industriellen Vormacht von Europa und Amerika in den Fernen Osten. Die Frage ist nur, ob der Wandel auf eine wohlwollende Art und Weise geschieht oder durch einen schrecklichen Konflikt. Deswegen glaube ich, dass es so wichtig ist, unsere Ausbildung und das wissenschaftliche System zu reformieren. Auf der anderen Seite glaube ich ohnehin nicht, dass es so, wie es jetzt ist, lange überleben wird. Wir haben ein Bildungssystem, das darauf angelegt ist, Menschen auf ein Produktions- und Finanzsystem vorzubereiten, das gerade am Zusammenbrechen ist. Im Moment produzieren alle Universitäten Europa große Reihen von Absolventen, die kaum noch die Jobs bekommen werden, die sie sich erhoffen. In Ägypten und Indien und in anderen Teilen der Welt ist das schon passiert. Die Ausildung erzeugt Erwartungen, die dann nicht erfüllt werden können.

Das klingt nach einer ungemütlichen Zukunft. Gibt es einen Ort, an dem sie zur Ruhe kommen, sich spirituell zu Hause fühlen?
Die Kirche von England ist so ein Ort, die anglikanische Kirche. Ich gehe regelmäßig zur Kirche. Wenn ich auf Reisen bin, gehe ich einfach in eine katholische oder in eine evangelische Kirche. Ich liebe es, einen Gottesdienst in einer unserer großen Kathedralen zu besuchen. Erst kürzlich war ich im York Minster. Sie hatten einen wundervollen Gottesdienst zu Ehren des Heiligen Michaels und der anderen Engel. Da gab es einen großen Chor, Weihrauch, Kerzen, herrliche Musik und wunderbare Gebete, alles war so inspirierend. Ich mag die Vorstellung, dass mich die Teilnahme an einem solchen Gottesdienst – der nicht nur schön, sondern auch sinnstiftend für mich ist – mit unserer Tradition verbindet, die weit bis ins Mittelalter zurück reicht. Ich denke, dass es wichtig ist, mit seinen Traditionen und Wurzeln in Verbindung zu stehen. Die Tatsache, dass ich Christ bin, bedeutet aber nicht, dass die Einsichten und Geschenke anderer Religionen ablehne. Ich denke, dass es heute mehr denn je wichtig ist, dass wir alle voneinander lernen. So praktiziere ich zum Beispiel jeden Morgen Yoga und meditiere auch. Ich habe in meiner Zeit in Indien viel über die indische Philosophie gelernt, die ich sehr schätze. Oder nehmen Sie meine Frau: Sie unterrichtet Tibetisch-Buddhistisches Chanting. Ich denke, dass es am Ende sehr befriedigend ist, der eigenen Tradition zu folgen und gleichzeitig von anderen Traditionen zu lernen. Ich glaube, dass der Versuch, sich von der christlichen Tradition loszureißen, ohnehin zwecklos ist, da sie unser Erbe darstellt und bis heute viele unserer Gewohnheiten und Gedanken formt.

Steht ein fester Glauben nicht im Gegensatz zu dem steten Infragestellen eines Wissenschaftlers?
Die Sorte von Predigten, die wir haben, sind äußerst nachdenklich, intelligent und hinterfragend. Es gibt da keine Dogmen. Das Bild, das viele Menschen von Religion haben, ist hoffnungslos altmodisch. Doch sobald ich eine wissenschaftliche Institution betrete, fühle ich mich im Nu eingeengt. Der Hauch der Intoleranz ist dort einfach viel präsenter. Ich hatte nie ein Problem, einem anderen Gemeindemitglied zu sagen, was ich denke. Niemand ist davon geschockt. Das ist in der Tat eine sehr inklusive Atmosphäre.

Wenn Sie einen Wunsch für die Welt und für sich ganz persönlich frei hätten: Was wäre das?
Ich würde mir wünschen, dass sich die Wissenschaften von den engen Begrenzungen befreit und eine freie Forschung erblüht, die aufregend ist und transformativ. Persönlich würde ich mir wünschen, das noch mitzuerleben.

* Der Biologe und Philosoph Rupert Sheldrake gilt spätestens seit der Veröffentlichung seines Buchs »Das schöpferische Universum« Anfang der 1980er Jahre als wissenschaftlicher Querdenker. Seine Theorie vom »morphogenetischen Feld«, das wie eine Art natürliche Cloud alle biologischen Informationen abspeichert und wieder abrufbar macht, beeinflusste ganzheitliche und spirituelle Autoren auf der ganzen Welt. Die Fachzeitschrift »New Scientist« schrieb über ihn: »Sheldrake ist ein herausragender Wissenschaftler. Er gehört zu jenen echten, visionären Entdeckern, die in früheren Zeiten neue Kontinente fanden.« Im September 2012 erschien sein neuestes Buch: »Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat«. Weitere Informationen: http://www.sheldrake.org